Von Hannah Schmidt, 28.07.2017

Bildungshunger

Der Komponist Philippe Manoury gilt als eines der Aushängeschilder der französischen Avantgarde. Komponieren ohne elektronische Musik ist für ihn kaum mehr vorstellbar. Er experimentiert kontinuierlich mit dem, was Neue Musik sein und schaffen kann. Fünf Fragen und fünf Antworten.

niusic: Herr Manoury, Sie haben für Ihre aktuelle Oper „Kein Licht.“ eine Arie und ein Quartett für einen Hund geschrieben. Wie humorvoll, wie unterhaltend sollte Neue Musik sein?

Philippe Manoury: Das hängt von der Situation ab. Aber Humor und Sarkasmus gibt es viel in guter Neuer Musik, beispielsweise bei Luciano Berio oder bei György Ligeti, die sehr komödiant unterwegs sind. Das ist interessant. Ich denke, Neue Musik sollte sogar humorvoll sein, auf jeden Fall. Wir wollen doch nicht die ganze Zeit in bedrückenden, düsteren Situationen leben. Natürlich ist beispielsweise das Leben nach einer Katastrophe tragisch, aber diese Tragik kann tatsächlich absurde Situationen hervorrufen, die komisch sein können.

niusic: Welche Bedeutung sollte Elektronik in der Neuen Musik haben?

Philippe Manoury

Manoury: Ich kenne viele gute Komponisten, die niemals Elektronik nutzen. Für mich ist es normal, es gehört für mich zur Musik wie die Geige oder das Klavier. Aber ich würde niemals sagen, dass es unmöglich wäre, moderne Musik ohne Technik zu machen.

niusic: Wo ist die Grenze zwischen Musik und Geräusch?

Manoury: Interessante Frage. Musik beinhaltet Geräusch. Aber es ist Teil der europäischen Musik, das Geräusch als solches eliminieren zu wollen. Beispielsweise in indischer, japanischer oder afrikanischer Musik werden Geräusche als Teil des Schönen akzeptiert. Wir müssen uns bewusst werden, dass wir den Klang eines Instrumentes ohne Geräusche nicht identifizieren könnten, beispielsweise das Geräusch bei Streichern, des Bogens, der die Saiten berührt. Wenn man dieses Geräusch technisch eliminieren würde, würde man das Instrument nicht mehr erkennen. Das Geräusch ist also so etwas wie die Visitenkarte eines Instruments, was aber niemand weiß.
Das gilt auch für die Stimme: Wenn ich nur flüstere, ist das nur Geräusch, ohne Stimme – und dennoch versteht man jedes Wort. Geräusch wird im Allgemeinen als etwas Hässliches angesehen, dabei ist es aus meiner Sicht etwas extrem Wichtiges. Wir müssen es berücksichtigen, sowohl als Teil des Klangs als auch als Klang an sich.

niusic: Ist es wichtig, als Komponist Neuer Musik revolutionär zu sein?

Manoury: Das weiß ich nicht, ich bin mir nicht sicher. Eigentlich ist die Zeit, zu der man „revolutionär“ war, vorbei. Der aus meiner Sicht revolutionärste Komponist war Anton Webern. Wenn wir heutzutage das hören, was er vor über einem Jahrhundert komponiert hat, klingt das für unsere Ohren noch immer fremd. Das war in gewisser Form „revolutionär“, hat aber nichts daran verändert, wie Leute Musik hören. Ich weiß also nicht, was wirklich „revolutionär“ sein könnte in Neuer Musik. Die Oper beispielsweise bräuchte auf jeden Fall eine Erneuerung, meiner Meinung nach, aber keine Revolution. Die Norm, die noch immer in der Oper vorherrscht, ist die Gleiche wie die im 17., 18. und 19. Jahrhundert, wo die Sänger auf die Bühne gingen und sagten: „Ich bin Don Giovanni, ich bin Moses, ich bin Napoleon“ – wer glaubt das denn? Wenn wir wollen, dass die Oper eine Zukunft hat, müssen wir die Herangehensweise ändern, wir können nicht immer noch in der gleichen ermüdenden Art singen, wir können nicht immer noch so komponieren wie im 19. oder beginnenden 20. Jahrhundert. Das Publikum hat sich geändert, und wir müssen uns auch verändern.

niusic: Wo sehen Sie die Zukunft der klassischen Musik?

Manoury: Ich sehe die Zukunft in der Bildung. Was wir haben, ist ein Bildungsproblem, in Frankreich mehr als in Deutschland. Musik wird zunehmend zu einer Art passiven Angelegenheit, wir werden zu Sklaven der Industrie – wir haben massenhaft Unterhaltungsmusik, was nett ist, keine Frage, aber es ist eine Rückbildung von Musik. Was ist denn Unterhaltung im Theater? Schlechtes Theater, das würde jeder sagen. Für die Musik aber ist das Realität und Normalität geworden. Die Schuld für diese Situation trägt aus meiner Sicht nicht das Publikum, sondern die Bildung. Sie ist der einzige Weg, der dazu führen kann, dass Leute wieder Interesse an dem Gegenstand bekommen und dass sie sich wieder tiefergehend mit ihm beschäftigen.

© pexels/CC0
© Hannah Schmidt


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