Von Hannah Schmidt, 30.06.2018

Musik ist keine Industrie!

Leiser hätte Gennadi Roschdestwenskis Abschied von dieser Welt wohl kaum sein können. Dabei war er der letzte große Dirigent seiner Generation, eine musikalische und kulturpolitische Ikone. Richten wir kurz unsere Scheinwerfer auf ihn – und sehen an seinem Beispiel, was der Klassik heute guttun könnte.

Es gibt da dieses Video, einen Mitschnitt von einem Konzert in London am 9. September 1971, mitten im Kalten Krieg: Roschdestwenski dirigiert seine Leningrader Philharmoniker beim Gastauftritt in der Royal Albert Hall, seine Haare sind noch hellbraun, sein Gesicht das eines gerade 40-Jährigen. Die Musiker lassen sich auf der Zielgeraden des letzten Satzes von Peter Tschaikowskis Vierter Sinfonie von ihrem Maestro – das Tempo anziehend, crescendierend 37 – in die Schluss-Takte hineintreiben wie ein Surfer sich in den Hohlraum einer donnernden Welle, und noch bevor der Dirigent den finalen Unisono-Ton abgeschlagen hat, bricht im Publikum ein Jubel aus, der das Fortissimo der Bläser noch locker übertönt. Was für ein Moment. Die Menschen applaudieren und rufen wie im Rausch.

  1. Die Dynamik des Unersättlichen: die Kunst der Lautstärke. Crescendi sind wohl die bekannteste Form der Dynamik, beziffert wird der ansteigende Klang mit einem langgezogenen Größerzeichen. Eins der schönsten Crescendi hat Haydn in seiner Schöpfung geschrieben, da will man unendlich viel mehr vom Sonnenaufgang. (CW)



Roschdestwenskis Gastspiele mit den Leningradern in London waren legendär – denn sie waren nicht weniger als das Symbol für ein kulturelles Zusammenkommen Großbritanniens mit Russland, für das Roschdestwenski sich über Jahre hinweg einsetzte, zu einer Zeit, in der ein Frieden unmöglich schien. Er organisierte ein Festival mit britischer Musik in Moskau und spielte alle Sinfonien Ralph Vaughan Williams‘ in Leningrad und im weißrussischen Polotsk. In Großbritannien brachte er – wie im Video – die Musik russischer Komponisten zur Aufführung oder unbekannte heimische Werke wie die Oper „The Critic“ von Charles Villiers Stanford. Sein Manager, Robert Slotover, der ihn seit 1984 vertrat, fasst diese Beispiele in einer persönlichen Erinnerung an ihn zusammen, aus der wir hier exklusiv zitieren dürfen.

Der junge Robert Slotover lernte den gerade 32-jährigen Roschdestwenski in Schottland kennen, beim Edinburgh Festival im Jahr 1962. Roschdestwenski dirigierte die westliche Erstauffühung von Dmitri Schostakowitschs Vierter Sinfonie – das Werk, das der Komponist in den 30er Jahren aus Angst vor den Folgen einer Aufführung unter Stalin zunächst zurückgezogen hatte. Erst Kirill Kondraschin dirigierte sie vor Publikum, am 30. Dezember 1961 in Moskau, kurz darauf kam Roschdestwenski in Edinburgh. Die Aufführung war für Slotover „eine unvergessliche Erfahrung". Doch das war sie auch für Schostakowitsch: Der damals 56-Jährige bemerkte, er habe noch nie „so viele meiner Werke in einer so kurzen Zeit gehört".

Er verkörperte eine Philosophie, die sich besonders elektrisierend äußern konnte.

Es ist schon ein Automatismus zu denken: Klassische Musik könnte doch auch heute mehr als eine Nische sein, sie könnte eine ereignishafte gesellschaftliche Bedeutung haben und Emotionen auslösen wie Roschdestwenskis Konzerte damals in Edinburgh, in London! Warum, scheint es, hat die Gesellschaft der politischen Jetztzeit aber den Bezug zur Klassik verloren, wieso kann diese Musik einigen wenigen offenbar die ganze Welt erklären, einem größeren Teil der Menschen aber so gut wie nichts mehr? Dass es vor einigen Jahren (so lange her ist es gar nicht!) noch völlig anders zu sein schien, mag tausend Gründe haben – aber es war sicherlich auch Roschdestwenski und den anderen großen Dirigenten seiner Generation zu verdanken, Musikern wie etwa Jewgeni Mrawinski oder Kirill Kondraschin. Und vor allem verkörperte doch Roschdestwenski in seiner Auffassung von seiner Arbeit und seiner Kunst eine Philosophie, die sich besonders elektrisierend äußern konnte: Es war ein Ereignis, wenn er dirigierte. Allein die Tatsache, dass er das Programm ausgewählt hatte und es in diesem Moment zur Aufführung brachte, war ein Moment absoluter, kategorischer Gegenwärtigkeit. Das gelang ihm nicht etwa, weil er berühmt war – sondern allein, weil es sein Anspruch war.

Seine Arbeitsweise war in diesem Kontext nur konsequent. Weil er so gut wie nie richtig probte, war er bei Orchestern als Gastdirigent regelrecht gefürchtet – doch er tat das nicht etwa aus Faulheit, sondern aus seinem künstlerischen Vorhaben heraus: Die Musiker sollten beim Konzert mit der vollsten Konzentration und Aufmerksamkeit bei ihm sein. Waren sie es bei der Probe nicht, brach er ab, um die Spannung wenigstens im Konzert zu haben – waren die Musiker aber perfekt vorbereitet und aufmerksam, insgesamt also „zu gut“, war auch das ein Grund, sie nach Hause zu schicken: „Wenn sie nicht proben müssen, warum sollte ich proben?“ Bei diesem Satz soll er breit gegrinst haben, berichtet Slotover. Irgendwie wusste er ja, dass es funktionieren würde.

Das Lösen der Fesseln geht aber noch weiter. Um die Programme im Ausland aufführen zu können, die er aufführen wollte, umging Roschdestwenski immer wieder die russische Bürokratie. Es konnte passieren, dass das sowjetische Außenministerium von ihm verlangte, die geplanten Programme vorzulegen. „Dann gab er imaginierte Werke wie Beethovens Flötenkonzert an", schreibt Slotover, „und amüsierte sich über die bestätigenden Stempel der Bürokraten."

Eine Erkenntnis, die vielleicht zwangsläufig bescheiden macht

Für Roschdestwenski war, so Slotover weiter, „alle Kunst eins“: Wohl kaum jemand dürfte noch ein so enormes Wissen über Musik, bildende Kunst, Theater, Literatur und Film haben wie Roschdestwenski es hatte. „Eine Stunde mit Gennadi Nikolajewitsch ist wie ein Jahr an der Universität“, sagte auch der Dramaturg und Autor Viktor Borowski über seinen Freund, der allein für seine Bibliothek in Moskau eine komplette Wohnung brauchte. Welcher Sache man sich auch widmet – sie ist nicht allein dadurch, dass man sich selbst für sie entschieden hat, das Wichtigste und Größte, sondern trotzdem nur ein Teil von etwas viel Größerem. Diese Erkenntnis macht vielleicht zwangsläufig bescheiden.

Wie gut täte es uns, wie gut täte es der Klassik heute, wenn nicht nur mehr Künstler und mehr Veranstalter, sondern vor allem auch Journalisten sie als Teil der Gegenwart begriffen und sie als solche behandelten – wenn sie ihre Relevanz zuließen! Kein Buhlen um Marktanteile und Klicks auf langweilige Entspannungs-Playlists mehr, um die Performance oder den perfekten Drive, der das nächste Engagement sichert, um die gute Auslastung im Kartenverkauf, die das Haus füllt. Nicht mehr Sachen machen, weil es nett ist, sondern tun, was zwingend wäre! Statt präsenter musikalischer und künstlerischer Ereignisse, statt triftiger, konsequenter und mutiger programmatischer Entscheidungen gibt es in den Spielplänen eine ganze Menge Geplänkel – und kaum oder schief fokussierte Öffentlichkeit. Es ist einfach verschenkt, Konzerte so zu programmieren, dass möglichst viel Publikum kommt, und bevorzugt zu berichten, wenn die Namen ziehen. Roschdestwenski dirigierte auch vor kleiner Runde, „er war glücklich, wenn er ein Programm machen konnte, das seinen künstlerischen Idealen entsprach“, so Slotover – und so hatten auch seinem Einsatz Komponisten wie Alfred Schnittke und Peter Maxwell Davies ihre Reichweite und Bedeutung zu verdanken. Roschdestwenski setzte sich für die Moderne ein – und reizte regelmäßig die Extreme aus.

Es ist ein Geschenk, dass es Videos gibt wie den Mitschnitt aus London.

Natürlich ist heute nicht alles tiefschwarz. Und auch war früher nicht alles besser. Zeit – gestern, demnächst, damals – ist ganz im Gegenteil für diese Argumentation kein Faktor. So leise wie sich der immer schon öffentlichkeitsscheu gewesene Roschdestwenski aus dem Diesseits gestohlen hat, so gegenwärtig bleiben die künstlerischen Ideale, die er wie kein anderer vertrat und in seiner Arbeit verwirklichte. Was Musik, wie Slotover schreibt, für ihn nie war: eine Industrie. Es ist traurig, dass man Roschdestwenski nie wieder bei einem seiner zum Schluss immer seltener gewordenen Konzerte wird erleben können. Und es ist ein Geschenk, dass es Videos gibt wie den Mitschnitt aus London. Sie erinnern uns daran, dass es möglich ist: Musik als relevante, jetzige Kunst – und unabhängig von jeglicher Form des Starkultes.


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