Von Thilo Braun, 26.02.2019

Karneval der Stile

Für ihr neues Projekt haben sich Komponist Anno Schreier und Librettistin Kerstin Maria Pöhler ein 400 Jahre altes Schauerdrama von John Ford vorgeknöpft. Es geht um Inzest, Intrigen und Mord, die Handlung wirkt überzogen und kitschig. Und ist damit genau richtig für diese „Oper über die Oper“.

Anno Schreier rutscht auf dem Stuhl herum, knibbelt mit den Händen am moosgrünen Hemd, rückt die Brille gerade. Es scheint ihm unangenehm zu sein, so prominent im Rampenlicht zu stehen. Ein paar Tage vor der Uraufführung seines neuen Werks sitzt er in einem Probensaal, rund hundert neugierige Augen blicken ihn an. Die Veranstaltung an der Deutschen Oper am Rhein soll die Möglichkeit bieten, mit Komponist und Regieteam ins Gespräch zu kommen. Anno Schreier hat sich vor allem als Opernkomponist einen Namen gemacht, das Auftragswerk der Deutschen Oper am Rhein ist schon sein achtes Musiktheaterwerk. Eine beachtliche Zahl für einen erst 40-jährigen Komponisten.

In der U-Bahn oder auf der Straße würde wohl niemand auf die Idee kommen, dass dieser schüchtern wirkende Kerl der Schöpfer einer Oper ist, die den Tabubruch schon im Namen trägt: „Schade, dass sie eine Hure war“. Der Titel stammt zwar nicht von Anno Schreier, sondern vom Shakespeare-Zeitgenossen John Ford. Und doch dürfte er dem Komponisten recht gewesen sein. Zusammen mit Librettistin Kerstin Maria Pöhler hat er für das Auftragswerk der Deutschen Oper am Rhein bewusst eine Story voller Übertreibungen gesucht.
„Was uns an diesem Stoff interessiert hat, ist, dass es alles so opernhafte Situationen und Figuren sind,“ sagt Anno Schreier, „alle sind noch extremer als sonst. Der komische Trottel ist noch komischer und trotteliger als normalerweise, der Bösewicht noch böser, die Verliebten noch verliebter.“

Blutiger Extremismus – die Opernhandlung

„Was mich an der Kunstform Oper interessiert, ist nicht so sehr das Realistische, sondern das Artifizielle."

Anno Schreier

Der Plot von John Ford liest sich klischeehaft. Die holzschnittartigen Figuren, ihre ausufernden Emotionen, haben mit der Realität wenig zu tun. Aber das müssen sie auch nicht, findet Anno Schreier: „Was mich an der Kunstform Oper interessiert, ist nicht so sehr das Realistische, sondern das Artifizielle. Oper ist ein Spiel, in dem von Anfang an klar gemacht wird, dass es ein Spiel ist.“ Schon die Tatsache, dass gesungen werde, sei schließlich alles andere als natürlich. Was also macht den Reiz aus?
Anno Schreier glaubt, dass der Wunsch nach emotionaler Überwältigung ein wesentlicher Antrieb für den Opernbesuch ist. Ähnlich wie beim Blockbuster: Sind die Zuschauer einmal dem Rausch verfallen, nehmen sie die Klischees gerne in Kauf, um in ihren Gefühlen zu schwelgen. In Anno Schreiers Musik zu „Schade, dass sie eine Hure war“ übernimmt vor allem das Orchester diese Soundtrack-Funktion. Da toben Sechzehntelketten zur Eifersucht Giovannis, Dissonanzen schreien Annabellas Schmerz heraus, fahle Flöten entlarven Lügen.

Für seine oft deskriptive Musiksprache bedient sich Anno Schreier an vierhundert Jahren Operngeschichte. Er leiht groteske Klänge bei Schostakowitsch, lässt Sänger im La-Traviata-Sound schwelgen oder zu Operettenkitsch tänzeln. Die Radikalität, mit der er sich die Stile aneigne, sei „vielleicht ein bisschen respektlos“, sagt Anno Schreier. Ihm sei jedoch wichtig, die Komposition genauso ins Kostüm zu stecken wie die Menschen auf der Bühne – ums Verkleiden gehe es schließlich auch in der Oper.
Die Musik funktioniert wie eine Karikatur. Schreier zeichnet Rollenklischees überdeutlich nach oder ergänzt sie durch überraschende Elemente. So lässt er den Macho Bergetto italienische Heldenarien singen, komponiert jedoch eine schwirrende Begleitung mit einem Flexaton hinzu, dessen Klang zwischen Schelle und singender Säge Assoziationen an Zeichentrickfilme weckt. Vollends ins Lächerliche kippt die Szene durch eine Blaskapelle, die ihre plumpe Begleitung stets ein wenig neben dem Takt spielen muss.

Solche Szenen sind handwerklich gut gemacht, wirken aber oberflächlich. Auch die Sopranistin Lavinia Dames (Annabella) war zunächst irritiert über den vielen Klamauk: „Ich muss gestehen, dass ich beim ersten Durchsehen dachte: Wann kommt denn sein eigener Stil endlich mal durch?“, bis ihr mit der Zeit dämmerte, dass möglicherweise auch die Banalität nur eine Verkleidung darstellt: „Je mehr ich damit gearbeitet habe, desto klarer wurde mir, dass der Abgrund im zweiten Teil umso tiefer wird durch dieses leichte, lustige Spiel am Anfang.“
Dass die Collage unerwarteter Elemente auch in ernsten Szenen funktioniert, zeigt Schreier im vierten Akt, als Soranzo auf Annabella einprügelt, nachdem er von ihrer Schwangerschaft erfahren hat. Annabella singt eine lyrische Belcanto-Arie, ein Geigen-Cluster sirrt in kreischender Höhe dazu. Mit der großen Trommel prasseln Schläge Soranzos dazwischen, der tobend den Namen des Vaters fordert.

„Oper ist auch eine Unterhaltungsform“

Anno Schreier

Der manchmal schockierend schnelle Wechsel zwischen Komödie und Drama vitalisiert wie Eiswasser nach der Sauna. David Hermann, Regisseur der Uraufführung, schärft die Kontraste zusätzlich, indem er Rokokokostüme auf Anzugträger treffen lässt, historische Stadtmauern auf kühle Glasfassaden. Am Bühnenrand wächst ein riesiger Fliegenpilz aus dem Boden. Klar, dass der giftig ist. Wie in Schreiers Musiksprache ist es aber auch hier die raffinierte Durchführung des plakativen Motivs, die vor Langeweile bewahrt. Man findet Fliegenpilzpunkte auf Schlafanzügen, Fliegenpilze im Knopfloch, Phallusfliegenpilze am Boden, Fliegenpilzluftschlösser unter der Decke. Die Oper habe ihm dabei geholfen, die „Leichtigkeit des Theaters“ wiederzuentdecken, sagt David Hermann. Theater als Spielplatz und Experimentierfeld, weniger als moralische Anstalt mit intellektuellem Überbau.
„Oper ist auch eine Unterhaltungsform“, ist sich Anno Schreier sicher. Eine Aussage, mit der er in den Kreisen der selbsternannten Avantgarde belächelt werden dürfte. In Donaueschingen und Darmstadt war Schreier nie eingeladen, vermutlich wirken seine Werke dafür nicht ernst genug. Im Zweifel wird ihn das aber kaum davon abhalten, die Musik seiner Kollegen als Farbe zu zitieren. Gut möglich, dass manch eine Elfenbein-Fassade dann polternd in sich zusammenfällt. Denn Anno Schreier ist nicht halb so harmlos, wie er aussieht.

© Szenenfotos: Hans-Jörg Michel (Deutsche Oper am Rhein)
© Porträts: Susanne Diesner (Deutsche Oper am Rhein)


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.